Von Leila Robel
Vor mir erstreckt sich eine Stadt. Sie ist geprägt von kegelförmigen Türmchen mit goldenen Verzierungen. Der Stadtrand ist von Bäumen in sattem grün markiert. In der Mitte liegt ein Marktplatz. Im Hintergrund ragen Berge in den lila-blauen Abendhimmel empor. Dieser Ort scheint verheißungsvoll und ich spüre Vorfreude gepaart mit Anspannung in mir aufsteigen. Ich weiß nicht, was mich dort erwartet und greife zu meinem Schwert, das an meinem Rücken gegen meine Rüstung scheppert, während ich durch das Stadttor reite. Bin ich auf Reisen? Träume ich? Nein, ich befinde mich in der virtuellen Welt von World of Warcraft.
Der Begriff „Virtualität“ leitet sich vom französischen „virtuel“ ab, was so viel wie „möglich“ oder „fähig zu wirken“ bedeutet und vom lateinischen „virtus“ (Kraft, Stärke, Tugend) kommt. Anders als oft angenommen ist „virtuell“ damit nicht das Gegenteil von „real“, sondern von „physisch“. Inwiefern sich der reale und der virtuelle Raum voneinander abgrenzen lassen beziehungsweise sich an manchen Stellen überschneiden, werde ich anhand einiger Vergleichskriterien in diesem Essay deutlich machen.[1] Einen besonderen Fokus werde ich dabei auf die unterschiedlichen Identitätsentwürfe legen, die im Zusammenspiel von „virtuell“ und „real“ entstehen.
Den virtuellen Raum werde ich mit Hilfe des Spiels World of Warcraft charakterisieren. WoW zählt zu den sogenannten Massive Multiplayer Online Role-Playing Games (MMORPG). Im Spiel geht es darum, innerhalb einer märchenhaft gestalteten Welt bestimmte Aufgaben zu lösen und gegen Monster, sogenannte Bosse, zu kämpfen. Dafür wird der Spieler in Form von Erfahrungspunkten, Ausrüstungsgegenständen oder Gold belohnt. Die Aufgaben lassen sich in Gruppen oder allein erledigen. Per Chat oder Teamspeak ist es den Spielern möglich, untereinander zu kommunizieren. Um mehr über das Spiel zu erfahren, habe ich ein Interview mit einem langjährigen WoW-Spieler geführt, der sich nach meiner Anfrage in einem WoW-Forum zu einem Gespräch anbot, welches wir über einen Chat führten. Der 21-jährige Germanistikstudent Karl ist seit langem WoW-begeistert und verbringt unter dem Namen „Ghoster“ viel Zeit mit dem Spiel.
Identität im Spiel
Das Spiel World of Warcraft bietet eine Vielzahl von Spielcharakteren zwischen denen der Spieler am Anfang wählen kann. Hierbei kann entschieden werden, zu welchem Volk – zur Auswahl stehen hier beispielsweise Menschen, Zwerge, Orcs oder Trolle – und zu welcher Klasse der eigene Charakter gehören soll. Bei letzterer kann unter anderem zwischen Jägern, Kriegern, Magiern oder Mönchen gewählt werden. Dieser Charakter, der zur Spieler-Identität wird, bleibt während des gesamten Spielens erhalten. Er entwickelt sich höchstens durch den Zugewinn neuer Gegenstände mit welchen sich sein Handlungsraum erweitert. Charakterliche Eigenschaften werden innerhalb des Spiels nicht festgelegt und treten in Handlungen des Spielcharakters auch nicht hervor. Jedoch können einige äußere Merkmale bestimmt werden.
Identitäten konstituieren sich immer auch durch den gegenseitigen Austausch und die Differenz gegenüber anderen und sind geprägt durch Eigen- und Fremdbild. Derartige Aushandlungsprozesse und die Zuschreibung bestimmter sozialer Rollen lassen sich innerhalb des Spiels dadurch finden, dass die Spielcharaktere Gruppen, sogenannte Gilden, bilden, in welchen sie ihre Aufgaben gemeinsam erledigen können.
Zwei innerhalb des Spiels stark thematisierte und in Opposition stehende Rollen sind die des Profispielers und die des Spaßspielers. Hierbei kommt es teils zu Auseinandersetzungen, wenn sich die Ambitionen der Spieler innerhalb einer Gruppe zu stark unterschieden. Mein Interviewpartner Kurt beschrieb in diesem Zusammenhang, oftmals wütend oder genervt zu sein, da er sich selbst zu den ambitionierten Spielern zählt und sich auch von Gruppenmitgliedern einen gewissen Einsatz und Verlässlichkeit wünsche. Innerhalb der Gruppe gibt es zum Beispiel die Möglichkeit, Aufgaben zu übernehmen, wie etwa das Brauen von Tränken. Das kann nur bei einem gewissen Spielengagement gelingen: „Ich bin oft da rein gerutscht, ein paar Verantwortungen zu übernehmen, weil ich mich so viel beschwert habe und war dann auch nicht besonders gut darin, bestimmte Sachen auszuführen, aber da ich sie schon mal übernommen hatte, konnte ich ja dann auch nicht einfach abhauen.“
Aushandlungsprozesse sozialer Rollen finden im virtuellen Spiel oftmals direkter als im relaen Leben statt. Der „Kampf um Rollen“ ist hier wörtlich zu nehmen. Das Besiegen eines Monsters durch eine Gilde, die damit erfolgreicher ist als andere, oder das Ausführen bestimmter Züge, welche einige Spieler besser beherrschen als andere, führen zur Rolle des erfolgreichen, talentierten Spielers. „Also die Anerkennung für so etwas war schon da irgendwo, und für diesen Mist habe ich es auch gespielt.“ Die hier entstehende Rollenverteilung ist oftmals sogar hierarchisch geordnet was durch Ranglisten sichtbar gemacht wird. „Meine Motivation war immer, vorne dabei zu sein.“
Das Aussuchen des Spiecharakters unterliegt keinem sozialen Aushandlungsprozesses, da dessen Gestaltung an dieser Stelle dem Spieler allein überlassen wird und zu Beginn des Spiels geschieht. Anders zeigt sich die Situation im realen Raum. Hier wird nicht per Mausklick eine Identität ausgesucht, sondern es gibt eine Vielzahl sozialer Rollen, die je nach Kontext von uns übernommen oder uns von anderen zugewiesen werden. Die Rollenübernahme erfolgt damit durch soziale Aushandlungsprozesse und unterliegt weder einer immer bewussten Entscheidung noch handelt es sich um konstante Identitäten, die vom sozialen Kontext unbeeinträchtigt bleiben.
„Ich mein’, das Spiel ist und war eigentlich immer ziemlich verdammt einfach.“ Mein Interviewpartner beschrieb World of Warcraft als Spiel, bei dem für den Einzelnen allein kaum Misserfolge auftreten würden. Das Spielen in Gruppen stelle sicher, dass Misserfolge wie ein verlorener Kampf sich auf alle Gruppenmitglieder aufteile und damit als gering empfunden würden. Im realen Raum hingegen sind Misserfolge schnell spürbar. Das Subjekt agiert hier als Individuum, weshalb Misserfolge oft vom Gefühl des Selbstverschuldens begleitet werden. Die Anforderungen an den einzelnen sind vielfältig und werden bei Nichterfüllung oftmals von Sanktionen begleitet. Ein Mechanismus, der bei World of Warcraft nicht vorhanden ist. So droht zum Beispiel nicht die Gefahr nach einem verlorenen Kampf ein Level abzurutschen. Durch das Steuern des Spielcharakters ergibt sich zudem ein Gefühl der Kontrolle. Handlungen können beliebig gesteuert und ausgeführt werden ohne dabei von störenden Faktoren (Mangel an Fähigkeiten, Zufälle, die Entscheidungen anderer etc.) beeinflusst zu werden. Die Volkskundlerin Claudia Schirrmeister beschreibt das Computerspiel zudem als einen Raum, der von Eindeutigkeit und Einfachheit gekennzeichnet sei. Dieses Gefühl der Kontrolle und Handlungskompetenz ließe sich in der komplex strukturierten Alltagswirklichkeit hingegen selten finden.[2]
Der Spielcharakter zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er als Identität jederzeit abgestreift werden kann. Durch das Ausloggen aus dem Spiel können sich die Akteure von dort entstandene Problemen oder Misserfolgen distanzieren. Doch diese Distanzierung greift nicht immer. So beschrieb mein Interviewpartner, dass er im Schlaf oftmals von World of Warcraft geträumt hätte oder ein spielerischer Misserfolg ihn teils auch nach dem Ausloggen beschäftigt hätte.
Zeitempfinden und Schnittstellen zwischen virtueller und realer Identität
Der Soziologe Hartmuth Rosa thematisiert in seiner Arbeit zum Thema Beschleunigung das sogenannte Fernsehparadoxon. Die beim Computerspielen und damit im virtuellen Raum verbrachte Zeit erscheine während des Spielens als kurze Erlebniszeit – bedingt durch hohe Stimulusdichte, emotionale Involvierung.[3] Dieses Gefühl beschreib auch mein Interviewpartner Karl: „Man macht etwas und ist davon so begeistert, dass es einen völlig in seinen Bann zieht. Eigentlich braucht man nicht mal Kaffee oder so was.“ Diese Zeit werde, so Rosa, auch in der Erinnerung als kurz empfunden. Das Fernsehparadoxon steht damit laut Rosa im Gegensatz zum subjektiven Zeitparadoxon, bei welchem kurze Erlebniszeit lange Erinnerungszeit hervorbringe. Das heißt, der während des direkten Erlebens kurz erscheinende Urlaub, der wie im Flug zu vergehen scheint, wird zu dichten und vielfältigen Erinnerungen. Beim Computerspielen schrumpfe nun die schon während des Spielens als kurz empfundene Zeit zu kurzer Erinnerungszeit zusammen.[4]
Oft entsteht das Gefühl, die Zeit mit nichts verbracht zu haben. Insbesondere der Moment des Ausschaltens bzw. die Zeit, die der Computer nach dem Spielen braucht, um heruntergefahren zu werden, wird von vielen als unerträglich lange und sogar qualvoll beschrieben.[5] Rosa vermutet, dass an dieser Stelle das „Zusammenschrumpfen der Zeit“ als besonders stark empfunden wird.[6]
Rosa erklärt das Paradoxon mit der Entsinnlichung des Computerspielens: Dabei werde nur der Seh- und Hörsinn angesprochen, während andere Empfindungen wie etwa Gerüche (welche für die Langzeiterinnerung von besonders großer Bedeutung sind) keine Rolle spielen. Die Reize kämen zudem aus einem räumlich stark begrenztem „Fenster“ (Bildschirm und
Lautsprecherboxen). Als zweiten Grund führt Rosa die Dekontextuierung an: „Das Geschehen auf dem Bildschirm steht in keinem Zusammenhang mit unseren übrigen Erfahrungen, mit unseren Stimmungen, Bedürfnissen, Wünschen etc. und reagiert nicht auf sie, es ist im (narrativen) Zusammenhang unseres Lebens nahezu vollständig „kontextlos“ oder unsituiert und lässt sich daher nicht in Erfahrungskonstituenten unserer eigenen Identität und unserer Lebensgeschichte transformieren.“[7]
Die von Rosa hier angenommene vollständige Entkopplung von virtueller und realer Identität lässt sich jedoch anzweifeln. So ist es denkbar, dass das Erfolgserlebnis im virtuellen Raum dazu beiträgt die eigene Identität zu formen und zum Beispiel ein stärkeres Selbstbewusstsein hervorbringt. Insbesondere die mögliche Kommunikation mit anderen Spielern kann zur möglichen Anknüpfung virtueller Erfahrungen an das reale Leben führen. Ein Beispiel führt die amerikanische Soziologin Sherry Turkle an, die sich insbesondere mit der psychischen Beziehung zwischen Menschen und Maschinen, speziell Computern, auseinandersetzt. Sie erzählt in ihrem Buch „Leben im Netz“ die Geschichte von Ava, die bei einem Autounfall ihr rechtes Bein verloren hat. Während Ava im realen Leben Probleme damit hat, Beziehungen zu Männern aufzubauen, gelingt es ihr im virtuellen Raum, sich als Frau mit Beinprothese darzustellen und dort von Männern akzeptiert zu werden. Durch die im virtuellen Raum positive Reaktion gelingt es ihr, auch im realen Leben besser Beziehungen aufzubauen und ihren veränderten Körper zu akzeptieren.
Mein Intervieparnter beschrieb die mögliche Trennung zwischen virtueller und realer Identität allerdings durchaus auch als angenehm: „Ich mein’, es [World of Warcraft] ist etwas, wo man (…) drin versinkt und alles vergessen kann.“ Gleichzeitig sieht er in dieser Möglichkeit auch eine Form der Flucht: „So oder so ist es aber auf jeden Fall eine psychische Flucht, das kommt schon hin. Auch für mich. Einfach gedanklich weg zu sein.“
Körper, Kommunikation und Materialität
An dieser Stelle lässt sich eine weitere Abgrenzung zwischen virtuellem und realem Raum feststellen. Körperliche Merkmale, genauso wie Herkunft oder sozialer Hintergrund sind im virtuellen Raum nicht erkennbar bzw. können nach Belieben preisgegeben werden. Was im realen Raum oftmals Handlungsrestriktionen mit sich bringt tritt, hier in den Hintergrund und spielt für das Fortkommen, wie zum Beispiel das Erreichen eines neuen Levels, keine Rolle.
Das Fehlen körperlicher Präsenz wirkt sich auch auf das Kommunikationsverhalten der Nutzer aus. Hemmungen, welche im realen Raum präsent sind, fallen im virtuellen Raum oftmals weg, da mit weniger Konsequenzen zu rechnen ist. Zudem ist ein schneller Austritt aus der sozialen Situation möglich, der anders als im realen Raum keiner Rechtfertigung bedarf und psychisch weniger Energie benötigt. Auch das Entfallen von Gestik und Mimik beschrieb mein Interviewpartner als hilfreich, da die Kommunikation so mit weniger Deutungszwang verbunden sei. Für andere mag das Fehlen von Körpersprache das gegenseitige Verständnis jedoch auch verkomplizieren.
Es zeigt sich aber auch, dass einige Prinzipien der Alltagswirklichkeit in den virtuellen Raum und damit auf das Computerspiel WoW übertragen werden. „Es werden die Prinzipien der realen Welt, die uns am meisten befriedigen, reproduziert. Die sind aber sehr viel besser zugänglich gemacht und vor allem verlässlicher. Alles geht schneller und ist weniger anstrengend. Der Fortschritt ist immer sichtbar, beschrieb mein Interviewpartner.
So lässt sich zum Beispiel das Bild des zu erreichenden Levels oder der Rangliste und das Streben nach Erfolg, welches belohnt wird, auch im realen Raum finden. Ein Beispiel sei hier der Begriff der Karriereleiter, die ähnlich den Leveln Stufe für Stufe erklommen werden kann.
Ebenso präsent ist der Besitz verschiedener Kapitalarten. Es lässt sich hierbei Bezug auf die vom französischen Soziologen Pierre Bourdieu analysierten Kapitalarten nehmen.
So gibt es sowohl ökonomisches Kapital in Form von Gold, mit welchem Gegenstände sowie Fähigkeiten erworben werden können, Diese Fähigkeiten können wiederum als kulturelles Kapital verstanden werden. Insbesondere Gegenstände spielen eine entscheidende Rolle für Erfolg und die soziale Position innerhalb des Spiels: „Ausrüstung ist wahrscheinlich immer noch das Hauptkriterium, nach dem die Leute [für den Beitritt in eine Gilde] ausgesucht werden“, so mein Interviewparnter Kurt. Auch die von Bourdieu thematisierte Kapitalumwandlung von ökonomischen in kulturelles Kapital ist damit möglich. Als institutionalisiertes Kapital lassen sich die Erfahrungspunkte verstehen, die den Aufstieg in ein höheres Level ermöglichen. Virtuelles Gold wird von manchen Spielern sogar mit realem Geld erworben. Eine Taktik, die jedoch als Regelverletzung gilt und mit dem Verlust des Spieleraccounts sanktioniert werden kann. An dieser Stelle zeigt sich eine eindeutige Verwobenheit zwischen realer und virtueller Materialität, indem die Geldwährung der realen Welt in die Goldwährung des Spiel getauscht wird.
Betrachtet man den Diskurs rund um das Thema virtuelle Spielwelten und mediale Darstellungen von „Gamern“, zeigt sich eine gewisse negative Bewertung intensiver Aufenthalte im virtuellen Raum.
Im Internet belegt dies eine Umfrage. Dort wird die Frage gestellt, ob man dem „verbreiteten Bild von einem Pizza […] essenden, in seinem dunklen Zimmer sitzenden und dauerspielenden Gamer“ zustimme.[8] Es gab drei Antwortmöglichkeiten. Dabei stimmten 56% der ca. 6500 Befragten für die Antwort, dass sie diesem Bild entsprächen, 28% meinten, dass es sich dabei um ein Vorurteil handle und immerhin 28% antworteten: „Na ja, um ehrlich zu sein entspreche ich schon ein bisschen diesem Bild.“ An der hier gewählten Formulierung „um ehrlich zu sein“ sowie der darauf folgenden Abmilderung „ein bisschen“ zeigt sich, dass es sich hier um ein Bild handelt, von dem ausgegangen wird, dass man diesem nicht entspreche oder sich von diesem zumindest distanzieren müsse. Die Dauerpräsenz im virtuellen Raum wird durch Attribute wie „im dunklen Zimmer sitzend“ -> Abschottung und „Pizza essend“ -> Verwahrlosung doch eher negativ assoziiert. Die Zeit mit „richtigen Freunden“ bei „realen Aktivitäten“ zu verbringen, scheint auch in Zeiten von digital natives immer noch höher bewertet zu werden. Doch die oftmals genutzten Bewertungskriterien Spaß und Sozialität, ja sogar Identitätsstärkung (Beispiel Ava), lassen sich auch im virtuellen Raum finden. Mein Interviewpartner beschrieb WoW spielen als Aktivität, auf die er sich immer freue und bei welcher er größtes Vergnügen empfinde. Gleichzeitig möchte er wegen dieser Leidenschaft aber auf keine Fall von anderen in eine Schublade gesteckt werden. „Ich wurde zum Beispiel mal von einem Chef bei einem Gespräch gefragt, ob ich so ein ‚Zocker’ sei oder ob ich gar nichts spielte. Und ich behauptete, ich würde gar nichts spielen.“ Weiterhin verwies mein Interviewpartner drauf, dass es ihm wenig Spaß mache, mit Leuten, die selbst nicht Computer spielten, über WoW zu sprechen, da es in diesen Gesprächen mehr um Klischees über die Gamer als um Inhalte des Spiels ginge.
Der in den Interviewaussagen aufscheinende Dualismus bei der Bewertung von virtuellem und realem Raum bestätigt die Volkskundlerin Claudia Schirrmeister. In ihrer Analyse der Spielwelten am Computer beschreibt sie den virtuellen Raum als „nicht echte Realität“. Den realen Raum kennzeichnet sie dagegen mit dem Begriff der „sozial konstruierten Realität“.[9] Sie bezieht sich hier auf die im Alltag durch Kommunikation ausgehandelten Wirklichkeitskonstruktionen. Damit geht sie nicht von einer absoluten Realität aus. Diese Aushandlung sieht sie im Computerspiel nicht und spricht hier deshalb von einem Verlust der Autonomie. Diesen Verlust manifestiert sie an der Tatsache, dass die Erlebniswelt im Computerspiel durch Programmierer festgelegt sei. „Die Welt des Bildschirmspiels wird nicht von den Spielenden gemeinsam `zum Leben erweckt´, sprich in wechselseitigen Handlungen zwischen ihnen konstruiert und bestätigt, sondern sie befindet sich in der Maschine, an die der Spieler geistig und körperlich gekoppelt ist.“[10] Die „Maschine“, als die sie den Computer bezeichnet, scheint hier zum Machtausübenden zu werden. Dem Spieler konstatiert sie hierbei „Anpassung und Unterwerfung an den Spielmodus“.[11] Ein Gefühl, das dem Spieler jedoch nicht bewusst sei, da er viel mehr das Gefühl der Macht und Kontrolle über seinen Spielcharakter habe.
Doch das Fehlen derartiger Aushandlungsprozesse scheint sich nicht komplett zu bewahrheiten. So finden die bereites beschrieben Aushandlungen sozialer Rollen statt. Auch in zugehörigen Foren findet ein Austausch über das Spiel statt indem durchaus verschiedene Taktiken und Spielherangehensweisen zu finden sind. Trotzdem sind die Schnittstellen zwischen realem und virtuellem Raum vorhanden: So gibt es für viele Computerspiele Weltmeisterschaften und andere Wettbewerbe, die gemeinsam ausgetragen werden und ähnlich wie Sportereignisse von anderen (über das Internet) verfolgt werden können.
Der Körper ist hier wichtiges Instrument an diesen Schnittstellen zwischen virtuellem und realem Raum. Reize des Bildschirms werden etwa im Gehirn umgewandelt und dort rufen sie bestimmte Empfindungen und Stimmungen hervor, die durchaus auch in der real-physischen Alltagswelt ihre Folgen haben.
Der Begriff des „Möglichen“, welcher im Wort „virtuel“ steckt, sollte von uns bei der Bewertung des virtuellen Raumes genutzt werden. Finden wir in jenem doch die Möglichkeit, Erfahrungen für den realen Raum zu gewinnen oder auch einfach mal abzuschalten und wie im Traum als Elf oder Magier durch unbekannte Landschaften zu reiten. „Das ist vielleicht doch etwas von Vertrautheit, nicht so sehr von Sicherheit, was ich mit dieser Welt verbinde. Eine Art Melancholie“, so die abschließenden Worte meines Interviewpartners Kurt.
Literatur:
Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a. M. 2005.
Schirrmeister, Claudia: Schein-Welten im Alltagsgrau. Über die soziale Konstruktion von Vergnügungswelten. Wiesbaden 2002.
Internetquellen:
http://de.statista.com/statistik/daten/studie/173695/umfrage/meinung-zu-klischees-ueber-online-gamer/ Stand: 10. 7. 13
Qualitative Methoden:
Leitfadeninterview per Chat mit dem WoW-Spieler Kurt
[1] Die hier von mir genutzte begriffliche Trennung zwischen realem und virtuellem Raum entstammt der Alltagssprache und wird in diesem Essay hauptsächlich aus pragmatischen Gründen genutzt. Mit Sicherheit ließen sich hier differenzierte Begrifflichkeiten finden.
[2] Vgl. Schirrmeister, Claudia: Schein-Welten im Alltagsgrau. Über die soziale Konstruktion von Vergnügungswelten. Wiesbaden 2002, S. 155.
[3] Vgl. Roas, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a. M. 2005, S. 229.
[4] Vgl. ebd.
[5] Vgl. ebd., S. 231.
[6] Vgl. ebd.
[7] Vgl. ebd., S. 232.
[8] Vgl. http://de.statista.com/statistik/daten/studie/173695/umfrage/meinung-zu-klischees-ueber-online-gamer/ Stand: 10. 7. 13
[9] Vgl. Schirrmeister: Schein-Welten, S. 156.
[10] Ebd., S. 151.
[11] Vgl. ebd., S. 152.