World of Warcraft: Identitätsentwürfe im virtuellen Raum

Von Leila Robel

Quelle: http://www.dailygalaxy.com/photos/ uncategorized/2007/08/22/world_of_warcraft_050905.jpg

Quelle: http://www.dailygalaxy.com/photos/
uncategorized/2007/08/22/world_of_warcraft_050905.jpg

Vor mir erstreckt sich eine Stadt. Sie ist geprägt von kegelförmigen Türmchen mit goldenen Verzierungen. Der Stadtrand ist von Bäumen in sattem grün markiert. In der Mitte liegt ein Marktplatz. Im Hintergrund ragen Berge in den lila-blauen Abendhimmel empor. Dieser Ort scheint verheißungsvoll und ich spüre Vorfreude gepaart mit Anspannung in mir aufsteigen. Ich weiß nicht, was mich dort erwartet und greife zu meinem Schwert, das an meinem Rücken gegen meine Rüstung scheppert, während ich durch das Stadttor reite. Bin ich auf Reisen? Träume ich? Nein, ich befinde mich in der virtuellen Welt von World of Warcraft.

Der Begriff „Virtualität“ leitet sich vom französischen „virtuel“ ab, was so viel wie „möglich“ oder „fähig zu wirken“ bedeutet und vom lateinischen „virtus“ (Kraft, Stärke, Tugend) kommt. Anders als oft angenommen ist „virtuell“ damit nicht das Gegenteil von „real“, sondern von „physisch“. Inwiefern sich der reale und der virtuelle Raum voneinander abgrenzen lassen beziehungsweise sich an manchen Stellen überschneiden, werde ich anhand einiger Vergleichskriterien in diesem Essay deutlich machen.[1] Einen besonderen Fokus werde ich dabei auf die unterschiedlichen Identitätsentwürfe legen, die im Zusammenspiel von „virtuell“ und „real“ entstehen.

Den virtuellen Raum werde ich mit Hilfe des Spiels World of Warcraft charakterisieren. WoW zählt zu den sogenannten Massive Multiplayer Online Role-Playing Games (MMORPG). Im Spiel geht es darum, innerhalb einer märchenhaft gestalteten Welt bestimmte Aufgaben zu lösen und gegen Monster, sogenannte Bosse, zu kämpfen. Dafür wird der Spieler in Form von Erfahrungspunkten, Ausrüstungsgegenständen oder Gold belohnt. Die Aufgaben lassen sich in Gruppen oder allein erledigen. Per Chat oder Teamspeak ist es den Spielern möglich, untereinander zu kommunizieren. Um mehr über das Spiel zu erfahren, habe ich ein Interview mit einem langjährigen WoW-Spieler geführt, der sich nach meiner Anfrage in einem WoW-Forum zu einem Gespräch anbot, welches wir über einen Chat führten. Der 21-jährige Germanistikstudent Karl ist seit langem WoW-begeistert und verbringt unter dem Namen „Ghoster“ viel Zeit mit dem Spiel.

Identität im Spiel

 

Das Spiel World of Warcraft bietet eine Vielzahl von Spielcharakteren zwischen denen der Spieler am Anfang wählen kann. Hierbei kann entschieden werden, zu welchem Volk – zur Auswahl stehen hier beispielsweise Menschen, Zwerge, Orcs oder Trolle – und zu welcher Klasse der eigene Charakter gehören soll. Bei letzterer kann unter anderem zwischen Jägern, Kriegern, Magiern oder Mönchen gewählt werden. Dieser Charakter, der zur Spieler-Identität wird, bleibt während des gesamten Spielens erhalten. Er entwickelt sich höchstens durch den Zugewinn neuer Gegenstände mit welchen sich sein Handlungsraum erweitert. Charakterliche Eigenschaften werden innerhalb des Spiels nicht festgelegt und treten in Handlungen des Spielcharakters auch nicht hervor. Jedoch können einige äußere Merkmale bestimmt werden.

Identitäten konstituieren sich immer auch durch den gegenseitigen Austausch und die Differenz gegenüber anderen und sind geprägt durch Eigen- und Fremdbild. Derartige Aushandlungsprozesse und die Zuschreibung bestimmter sozialer Rollen lassen sich innerhalb des Spiels dadurch finden, dass die Spielcharaktere Gruppen, sogenannte Gilden, bilden, in welchen sie ihre Aufgaben gemeinsam erledigen können.

Zwei innerhalb des Spiels stark thematisierte und in Opposition stehende Rollen sind die des Profispielers und die des Spaßspielers. Hierbei kommt es teils zu Auseinandersetzungen, wenn sich die Ambitionen der Spieler innerhalb einer Gruppe zu stark unterschieden. Mein Interviewpartner Kurt beschrieb in diesem Zusammenhang, oftmals wütend oder genervt zu sein, da er sich selbst zu den ambitionierten Spielern zählt und sich auch von Gruppenmitgliedern einen gewissen Einsatz und Verlässlichkeit wünsche. Innerhalb der Gruppe gibt es zum Beispiel die Möglichkeit, Aufgaben zu übernehmen, wie etwa das Brauen von Tränken. Das kann nur bei einem gewissen Spielengagement gelingen: „Ich bin oft da rein gerutscht, ein paar Verantwortungen zu übernehmen, weil ich mich so viel beschwert habe und war dann auch nicht besonders gut darin, bestimmte Sachen auszuführen, aber da ich sie schon mal übernommen hatte, konnte ich ja dann auch nicht einfach abhauen.“

Aushandlungsprozesse sozialer Rollen finden im virtuellen Spiel oftmals direkter als im relaen Leben statt. Der „Kampf um Rollen“ ist hier wörtlich zu nehmen. Das Besiegen eines Monsters durch eine Gilde, die damit erfolgreicher ist als andere, oder das Ausführen bestimmter Züge, welche einige Spieler besser beherrschen als andere, führen zur Rolle des erfolgreichen, talentierten Spielers. „Also die Anerkennung für so etwas war schon da irgendwo, und für diesen Mist habe ich es auch gespielt.“ Die hier entstehende Rollenverteilung ist oftmals sogar hierarchisch geordnet was durch Ranglisten sichtbar gemacht wird. „Meine Motivation war immer, vorne dabei zu sein.“

Das Aussuchen des Spiecharakters unterliegt keinem sozialen Aushandlungsprozesses, da dessen Gestaltung an dieser Stelle dem Spieler allein überlassen wird und zu Beginn des Spiels geschieht. Anders zeigt sich die Situation im realen Raum. Hier wird nicht per Mausklick eine Identität ausgesucht, sondern es gibt eine Vielzahl sozialer Rollen, die je nach Kontext von uns übernommen oder uns von anderen zugewiesen werden. Die Rollenübernahme erfolgt damit durch soziale Aushandlungsprozesse und unterliegt weder einer immer bewussten Entscheidung noch handelt es sich um konstante Identitäten, die vom sozialen Kontext unbeeinträchtigt bleiben.

„Ich mein’, das Spiel ist und war eigentlich immer ziemlich verdammt einfach.“ Mein Interviewpartner beschrieb World of Warcraft als Spiel, bei dem für den Einzelnen allein kaum Misserfolge auftreten würden. Das Spielen in Gruppen stelle sicher, dass Misserfolge wie ein verlorener Kampf sich auf alle Gruppenmitglieder aufteile und damit als gering empfunden würden. Im realen Raum hingegen sind Misserfolge schnell spürbar. Das Subjekt agiert hier als Individuum, weshalb Misserfolge oft vom Gefühl des Selbstverschuldens begleitet werden. Die Anforderungen an den einzelnen sind vielfältig und werden bei Nichterfüllung oftmals von Sanktionen begleitet. Ein Mechanismus, der bei World of Warcraft nicht vorhanden ist. So droht zum Beispiel nicht die Gefahr nach einem verlorenen Kampf ein Level abzurutschen. Durch das Steuern des Spielcharakters ergibt sich zudem ein Gefühl der Kontrolle. Handlungen können beliebig gesteuert und ausgeführt werden ohne dabei von störenden Faktoren (Mangel an Fähigkeiten, Zufälle, die Entscheidungen anderer etc.) beeinflusst zu werden. Die Volkskundlerin Claudia Schirrmeister beschreibt das Computerspiel zudem als einen Raum, der von Eindeutigkeit und Einfachheit gekennzeichnet sei. Dieses Gefühl der Kontrolle und Handlungskompetenz ließe sich in der komplex strukturierten Alltagswirklichkeit hingegen selten finden.[2]

Der Spielcharakter zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er als Identität jederzeit abgestreift werden kann. Durch das Ausloggen aus dem Spiel können sich die Akteure von dort entstandene Problemen oder Misserfolgen distanzieren. Doch diese Distanzierung greift nicht immer. So beschrieb mein Interviewpartner, dass er im Schlaf oftmals von World of Warcraft geträumt hätte oder ein spielerischer Misserfolg ihn teils auch nach dem Ausloggen beschäftigt hätte. 

Zeitempfinden und Schnittstellen zwischen virtueller und realer Identität

Der Soziologe Hartmuth Rosa thematisiert in seiner Arbeit zum Thema Beschleunigung das sogenannte Fernsehparadoxon. Die beim Computerspielen und damit im virtuellen Raum verbrachte Zeit erscheine während des Spielens als kurze Erlebniszeit – bedingt durch hohe Stimulusdichte, emotionale Involvierung.[3] Dieses Gefühl beschreib auch mein Interviewpartner Karl: „Man macht etwas und ist davon so begeistert, dass es einen völlig in seinen Bann zieht. Eigentlich braucht man nicht mal Kaffee oder so was.“ Diese Zeit werde, so Rosa, auch in der Erinnerung als kurz empfunden. Das Fernsehparadoxon steht damit laut Rosa im Gegensatz zum subjektiven Zeitparadoxon, bei welchem kurze Erlebniszeit lange Erinnerungszeit hervorbringe. Das heißt, der während des direkten Erlebens kurz erscheinende Urlaub, der wie im Flug zu vergehen scheint, wird zu dichten und vielfältigen Erinnerungen. Beim Computerspielen schrumpfe nun die schon während des Spielens als kurz empfundene Zeit zu kurzer Erinnerungszeit zusammen.[4]

Oft entsteht das Gefühl, die Zeit mit nichts verbracht zu haben. Insbesondere der Moment des Ausschaltens bzw. die Zeit, die der Computer nach dem Spielen braucht, um heruntergefahren zu werden, wird von vielen als unerträglich lange und sogar qualvoll beschrieben.[5] Rosa vermutet, dass an dieser Stelle das „Zusammenschrumpfen der Zeit“ als besonders stark empfunden wird.[6]

Rosa erklärt das Paradoxon mit der Entsinnlichung des Computerspielens: Dabei werde nur der Seh- und Hörsinn angesprochen, während andere Empfindungen wie etwa Gerüche (welche für die Langzeiterinnerung von besonders großer Bedeutung sind) keine Rolle spielen. Die Reize kämen zudem aus einem räumlich stark begrenztem „Fenster“ (Bildschirm und

Lautsprecherboxen). Als zweiten Grund führt Rosa die Dekontextuierung an: „Das Geschehen auf dem Bildschirm steht in keinem Zusammenhang mit unseren übrigen Erfahrungen, mit unseren Stimmungen, Bedürfnissen, Wünschen etc. und reagiert nicht auf sie, es ist im (narrativen) Zusammenhang unseres Lebens nahezu vollständig „kontextlos“ oder unsituiert und lässt sich daher nicht in Erfahrungskonstituenten unserer eigenen Identität und unserer Lebensgeschichte transformieren.“[7]

Die von Rosa hier angenommene vollständige Entkopplung von virtueller und realer Identität lässt sich jedoch anzweifeln. So ist es denkbar, dass das Erfolgserlebnis im virtuellen Raum dazu beiträgt die eigene Identität zu formen und zum Beispiel ein stärkeres Selbstbewusstsein hervorbringt. Insbesondere die mögliche Kommunikation mit anderen Spielern kann zur möglichen Anknüpfung virtueller Erfahrungen an das reale Leben führen. Ein Beispiel führt die amerikanische Soziologin Sherry Turkle an, die sich insbesondere mit der psychischen Beziehung zwischen Menschen und Maschinen, speziell Computern, auseinandersetzt. Sie erzählt in ihrem Buch „Leben im Netz“ die Geschichte von Ava, die bei einem Autounfall ihr rechtes Bein verloren hat. Während Ava im realen Leben Probleme damit hat, Beziehungen zu Männern aufzubauen, gelingt es ihr im virtuellen Raum, sich als Frau mit Beinprothese darzustellen und dort von Männern akzeptiert zu werden. Durch die im virtuellen Raum positive Reaktion gelingt es ihr, auch im realen Leben besser Beziehungen aufzubauen und ihren veränderten Körper zu akzeptieren.

Mein Intervieparnter beschrieb die mögliche Trennung zwischen virtueller und realer Identität allerdings durchaus auch als angenehm: „Ich mein’, es [World of Warcraft] ist etwas, wo man (…) drin versinkt und alles vergessen kann.“ Gleichzeitig sieht er in dieser Möglichkeit auch eine Form der Flucht: „So oder so ist es aber auf jeden Fall eine psychische Flucht, das kommt schon hin. Auch für mich. Einfach gedanklich weg zu sein.“

Körper, Kommunikation und Materialität

An dieser Stelle lässt sich eine weitere Abgrenzung zwischen virtuellem und realem Raum feststellen. Körperliche Merkmale, genauso wie Herkunft oder sozialer Hintergrund sind im virtuellen Raum nicht erkennbar bzw. können nach Belieben preisgegeben werden. Was im realen Raum oftmals Handlungsrestriktionen mit sich bringt tritt, hier in den Hintergrund und spielt für das Fortkommen, wie zum Beispiel das Erreichen eines neuen Levels, keine Rolle.

Das Fehlen körperlicher Präsenz wirkt sich auch auf das Kommunikationsverhalten der Nutzer aus. Hemmungen, welche im realen Raum präsent sind, fallen im virtuellen Raum oftmals weg, da mit weniger Konsequenzen zu rechnen ist. Zudem ist ein schneller Austritt aus der sozialen Situation möglich, der anders als im realen Raum keiner Rechtfertigung bedarf und psychisch weniger Energie benötigt. Auch das Entfallen von Gestik und Mimik beschrieb mein Interviewpartner als hilfreich, da die Kommunikation so mit weniger Deutungszwang verbunden sei. Für andere mag das Fehlen von Körpersprache das gegenseitige Verständnis jedoch auch verkomplizieren.

Es zeigt sich aber auch, dass einige Prinzipien der Alltagswirklichkeit in den virtuellen Raum und damit auf das  Computerspiel WoW übertragen werden. „Es werden die Prinzipien der realen Welt, die uns am meisten befriedigen, reproduziert. Die sind aber sehr viel besser zugänglich gemacht und vor allem verlässlicher. Alles geht schneller und ist weniger anstrengend. Der Fortschritt ist immer sichtbar, beschrieb mein Interviewpartner.

So lässt sich zum Beispiel das Bild des zu erreichenden Levels oder der Rangliste und das Streben nach Erfolg, welches belohnt wird, auch im realen Raum finden. Ein Beispiel sei hier der Begriff der Karriereleiter, die ähnlich den Leveln Stufe für Stufe erklommen werden kann.

Ebenso präsent ist der Besitz verschiedener Kapitalarten. Es lässt sich hierbei Bezug auf die vom französischen Soziologen Pierre Bourdieu analysierten Kapitalarten nehmen.

So gibt es sowohl ökonomisches Kapital in Form von Gold, mit welchem Gegenstände sowie Fähigkeiten erworben werden können, Diese Fähigkeiten können wiederum als kulturelles Kapital verstanden werden. Insbesondere Gegenstände spielen eine entscheidende Rolle für Erfolg und die soziale Position innerhalb des Spiels: „Ausrüstung ist wahrscheinlich immer noch das Hauptkriterium, nach dem die Leute [für den Beitritt in eine Gilde] ausgesucht werden“, so mein Interviewparnter Kurt. Auch die von Bourdieu thematisierte Kapitalumwandlung von ökonomischen in kulturelles Kapital ist damit möglich. Als institutionalisiertes Kapital lassen sich die Erfahrungspunkte verstehen, die den Aufstieg in ein höheres Level ermöglichen. Virtuelles Gold wird von manchen Spielern sogar mit realem Geld erworben. Eine Taktik, die jedoch als Regelverletzung gilt und mit dem Verlust des Spieleraccounts sanktioniert werden kann. An dieser Stelle zeigt sich eine eindeutige Verwobenheit zwischen realer und virtueller Materialität, indem die Geldwährung der realen Welt in die Goldwährung des Spiel getauscht wird.

Betrachtet man den Diskurs rund um das Thema virtuelle Spielwelten und mediale Darstellungen von „Gamern“, zeigt sich eine gewisse negative Bewertung intensiver Aufenthalte im virtuellen Raum.

Im Internet belegt dies eine Umfrage. Dort wird die Frage gestellt, ob man dem „verbreiteten Bild von einem Pizza […] essenden, in seinem dunklen Zimmer sitzenden und dauerspielenden Gamer“ zustimme.[8] Es gab drei Antwortmöglichkeiten. Dabei stimmten  56% der ca. 6500 Befragten für die Antwort, dass sie diesem Bild entsprächen, 28% meinten, dass es sich dabei um ein Vorurteil handle und immerhin 28% antworteten: „Na ja, um ehrlich zu sein entspreche ich schon ein bisschen diesem Bild.“ An der hier gewählten Formulierung „um ehrlich zu sein“ sowie der darauf folgenden Abmilderung „ein bisschen“ zeigt sich, dass es sich hier um ein Bild handelt, von dem ausgegangen wird, dass man diesem nicht entspreche oder sich von diesem zumindest distanzieren müsse. Die Dauerpräsenz im virtuellen Raum wird durch Attribute wie „im dunklen Zimmer sitzend“ -> Abschottung und „Pizza essend“ -> Verwahrlosung doch eher negativ assoziiert. Die Zeit mit „richtigen Freunden“ bei „realen Aktivitäten“ zu verbringen, scheint auch in Zeiten von digital natives immer noch  höher bewertet zu werden. Doch die oftmals genutzten Bewertungskriterien Spaß und Sozialität, ja sogar Identitätsstärkung (Beispiel Ava), lassen sich auch im virtuellen Raum finden. Mein Interviewpartner beschrieb WoW spielen als Aktivität, auf die er sich immer freue und bei welcher er größtes Vergnügen empfinde. Gleichzeitig möchte er wegen dieser Leidenschaft aber auf keine Fall von anderen in eine Schublade gesteckt werden. „Ich wurde zum Beispiel mal von einem Chef bei einem Gespräch gefragt, ob ich so ein ‚Zocker’ sei oder ob ich gar nichts spielte. Und ich behauptete, ich würde gar nichts spielen.“ Weiterhin verwies mein Interviewpartner drauf, dass es ihm wenig Spaß mache, mit Leuten, die selbst nicht Computer spielten, über WoW zu sprechen, da es in diesen Gesprächen mehr um Klischees über die Gamer als um Inhalte des Spiels ginge.

Der in den  Interviewaussagen aufscheinende Dualismus bei der Bewertung von virtuellem und realem Raum bestätigt die Volkskundlerin Claudia Schirrmeister. In ihrer Analyse der Spielwelten am Computer beschreibt sie den virtuellen Raum als „nicht echte Realität“. Den realen Raum kennzeichnet sie dagegen mit dem Begriff der „sozial konstruierten Realität“.[9] Sie bezieht sich hier auf die im Alltag durch Kommunikation ausgehandelten Wirklichkeitskonstruktionen. Damit geht sie nicht von einer absoluten Realität aus. Diese Aushandlung sieht sie im Computerspiel nicht und spricht hier deshalb von einem Verlust der Autonomie.  Diesen Verlust manifestiert sie an der Tatsache, dass die Erlebniswelt im Computerspiel durch Programmierer festgelegt sei. „Die Welt des Bildschirmspiels wird nicht von den Spielenden gemeinsam `zum Leben erweckt´, sprich in wechselseitigen Handlungen zwischen ihnen konstruiert und bestätigt, sondern sie befindet sich in der Maschine, an die der Spieler geistig und körperlich gekoppelt ist.“[10] Die „Maschine“, als die sie den Computer bezeichnet, scheint hier zum Machtausübenden zu werden. Dem Spieler konstatiert sie hierbei „Anpassung und Unterwerfung an den Spielmodus“.[11] Ein Gefühl, das dem Spieler jedoch nicht bewusst sei, da er viel mehr das Gefühl der Macht und Kontrolle über seinen Spielcharakter habe.

Doch das Fehlen derartiger Aushandlungsprozesse scheint sich nicht komplett zu bewahrheiten. So finden die bereites beschrieben Aushandlungen sozialer Rollen statt. Auch in zugehörigen Foren findet ein Austausch über das Spiel statt indem durchaus verschiedene Taktiken und Spielherangehensweisen zu finden sind. Trotzdem sind die Schnittstellen zwischen realem und virtuellem Raum vorhanden: So gibt es für viele Computerspiele Weltmeisterschaften und andere Wettbewerbe, die gemeinsam ausgetragen werden und ähnlich wie Sportereignisse von anderen (über das Internet) verfolgt werden können.

Der Körper ist hier wichtiges Instrument an diesen Schnittstellen zwischen virtuellem und realem Raum. Reize des Bildschirms werden etwa im Gehirn umgewandelt und dort rufen sie bestimmte Empfindungen und Stimmungen hervor, die durchaus auch in der real-physischen  Alltagswelt ihre Folgen haben.

Der Begriff des „Möglichen“, welcher im Wort „virtuel“ steckt, sollte von uns bei der Bewertung des virtuellen Raumes genutzt werden. Finden wir in jenem doch die Möglichkeit, Erfahrungen für den realen Raum zu gewinnen oder auch einfach mal abzuschalten und wie im Traum als Elf oder Magier durch unbekannte Landschaften zu reiten. „Das ist vielleicht doch etwas von Vertrautheit, nicht so sehr von Sicherheit, was ich mit dieser Welt verbinde. Eine Art Melancholie“, so die abschließenden Worte meines Interviewpartners Kurt.

Literatur:

Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a. M. 2005.

Schirrmeister, Claudia: Schein-Welten im Alltagsgrau. Über die soziale Konstruktion von Vergnügungswelten. Wiesbaden 2002.

Internetquellen:

http://de.statista.com/statistik/daten/studie/173695/umfrage/meinung-zu-klischees-ueber-online-gamer/ Stand: 10. 7. 13

Qualitative Methoden:

Leitfadeninterview per Chat mit dem WoW-Spieler Kurt


[1] Die hier von mir genutzte begriffliche Trennung zwischen realem und virtuellem Raum entstammt der Alltagssprache und wird in diesem Essay hauptsächlich aus pragmatischen Gründen genutzt. Mit Sicherheit ließen sich hier differenzierte Begrifflichkeiten finden.

[2] Vgl. Schirrmeister, Claudia: Schein-Welten im Alltagsgrau. Über die soziale Konstruktion von Vergnügungswelten. Wiesbaden 2002, S. 155.

[3] Vgl. Roas, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a. M. 2005, S. 229.

[4] Vgl. ebd.

[5] Vgl. ebd., S. 231.

[6] Vgl. ebd.

[7] Vgl. ebd., S. 232.

[9] Vgl. Schirrmeister: Schein-Welten, S. 156.

[10] Ebd., S. 151.

[11] Vgl. ebd., S. 152.

Die erweiterte Realität der Frösche und Schlümpfe – über die Verlagerung virtueller Spielewelten auf die Straße oder: Wie die Gamer das Tageslicht erblickten

Von Josephin Brümmel

Ingress_Lueder.jpg Kopie

Freitag Abend, kurz nach 8 Uhr: Ich treffe mich in der Nähe vom Bahnhof Dammtor in Hamburg mit meinem Interviewpartner Lüder. Es ist ein warmer Sommerabend, der viele Menschen nach draußen zieht, um das Wochenende mit einem Bier oder Cocktail einzuleiten. Lüder und ich haben heute Großes vor. Wir kämpfen im Namen der Resistance gegen die Gruppe der Enlightened und hacken Portale, damit diese sich, so banal es klingt, schlumpfblau einfärben. Oder genauer: Er zockt und ich begleite ihn dabei. Ich als iPhone-NutzerIn habe das Nachsehen. Das Augmented-Reality-Spiel Ingress ist derzeit Android-Usern vorbehalten, wenn man von der gecrackten iPhone-Version absieht, die laut Angaben in Online-Foren noch nicht ganz rund läuft. Schon während der Begrüßung lässt er seine Augen kaum von seinem Smartphone. Ich erhasche einen Blick und sehe ein diffuses Gebilde aus leuchtenden Punkten und unverständlichen Textbausteinen. „Guck mal, wir hacken jetzt das erste Portal.”1 So aufregend es klingt, so enttäuscht bin ich, als er einfach auf den Button „Hack“ klickt und nach ein paar Sekunden eine elektronische Frauenstimme erklingt: “Portal in range… Hack possible… acquired.“

This world around you is not what it seems.“ Niantic Project wirbt mit diesen Worten in einem YouTube-Video für Googles neuesten Marketing Clou Ingress. Das Augmented-Reality-Spiel verspricht eine neuartige Spielerfahrung, das viele Millionen Menschen rund um den Globus in wenigen Monaten in seinen Bann gezogen hat.

Ausschnitt_MapIngress.jpg Kopie

Worum geht es bei Ingress? Ein kurzer Einstieg in die Geschichte des Spiels:

Das Video von Niantic Project wurde am 15. November 2012 auf YouTube2 hochgladen und hat mittlerweile fast 2 Millionen Views. Die Geschichte erzählt von einer mysteriösen Energie, die Wissenschaftler entdeckt haben wollen. Die Quelle dieser Energie, im Spiel Exotic Matter genannt, sei außerirdisch und die Auswirkungen auf die Menschen noch nicht hinreichend erforscht. Im Zuge dieser Spielkonstellation bilden sich zwei Fraktionen heraus: Die Enlightened (oder aufgrund ihrer grünen Farbgebung im Spiel auch Frösche genannt) sind der Ansicht, dass diese Energie zum Vorteil der Menschheit sein kann. Die Resistance (im Spiel die blau Gekennzeichneten und deshalb auch Schlümpfe genannt) stellen den Gegenpol dar und sehen eine große Gefahr in dieser geheimnisvollen Materie.

Gleich zu Beginn steht der Spieler oder die Spielerin vor der Frage, zu welcher Fraktion er oder sie zugehören möchte: zu den Erleuchteten oder zum Widerstand? Kurz nach dem Eintritt in die gewählte Gruppe wird der Neuankömmling von seinen Kameraden willkommen geheißen, so war es jedenfalls bei Lüder. Es folgten auch gleich private Anfragen, ob man “nicht mal gemeinsam um das Viertel ziehen mag?” Der “Neue” wird sofort in das Kollektiv miteinbezogen, so dass er ein wichtiger Bestandteil für diese Form des “Cyber-Kriegs” zu sein scheint. Dies trifft besonders für Spieler zu, die in Gegenden wohnen, in denen viele der Portale der gegnerischen Fraktion gehören.

Worum geht es bei diesen sogenannten Portalen genau? Die Portale müssen gehackt und von der eigenen Fraktion verteidigt werden. Diese Portale enthalten je 8 Resonatoren, die mithilfe von verschiedenen Items und Exotic Matter aufgeladen werden. Die Items sind hilfreiche Gegenstände, die der Spieler erhält, wenn er Portale erfolgreich gehackt hat. Die Exotic Matter kann überall “auf der Straße” gesammelt werden. Dies geschieht automatisch, ohne dass der Spieler etwas dafür tun muss. Diese virtuelle Materie bildet sich alle paar Minuten neu und ist je nach Spielverkehr mehr oder weniger vertreten. Auch Portale sind überall auf der Welt verteilt und mit einem Android-Gerät als Scanner erkennbar. Technisch ist die Spielwelt von Ingress nichts anderes als Google Maps in einem neuen Gewand. Die eigene Position wird über GPS ermittelt. Als Spieler (Agent) kann man selbst Portale eröffnen, indem man ein Bild von dem gewünschten Platz an Niantec schickt. Dort wird dann geprüft, ob sich der Platz als neues Portal eignet. Mit Items3 wie den Portal Keys, die an den verschiedenen Portalen gesammelt werden, lassen sich Felder, sogenannte Mind Units bauen, indem man drei Portale verlinkt. Die Summe der Mind Units ergibt den weltweiten Spielstand der beiden Fraktionen.

Die Faszination rund um Augmented-Reality-Spiele zieht sich schleichend durch Deutschland. Ingress ist durch Medienberichte auf Spiegel Online4, im Elektrischen Reporter5, Pixelmacher6 und im Frühstücksfernsehen7 in das öffentliche Interesse gerückt. Anfangs setzte sich das Schnitzeljagd ähnliche Spiel Geocaching8 auch bei einer Generation durch, die man nicht zu den Digital Natives9 zählen würde. Marcus Tönnis, ein Wissenschaftler der Technischen Universität München, gibt in seinem Buch “Augmented Reality”10 einen Überblick über die technischen Hintergründe und bezieht sich darin dabei auf die These des Computerwissenschaftlers Ron Azuma, dass ”die Realität (…)mit der Virtualität kombiniert” werde.11 Diese Kombination ermögliche interaktive Handlungen bei den Nutzern, die auf diese Weise “mit zusätzlich eingefügten Objekten interagieren”12 können. Die erweiterte Realität ist also ein Schnittpunkt zwischen der vollkommenen Realität und der vollkommenen Virtualität und erfolgt in Echtzeit. Das Einbringen von spielerischen Elementen in einen nicht-spielerischen Kontext wird auch als Gamification13 bezeichnet. So wird aus der schnöden Realität eine spielerische Erfahrung. Speziell im Fall von Ingress wird die Stadt zu einem riesigen Spielfeld.

Die Mitglieder treffen sich in großen Gruppen und ziehen bewaffnet mit Smartphones und Tablets gemeinsam durch die Stadt. Die Pros14 unter ihnen gehen einen Schritt weiter, nehmen sich gleich das Auto oder montieren ihr Tablet am Fahrrad, um schnellstmöglich zum nächsten Portal zu gelangen und währenddessen ihr Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Dabei werden auch größere Strecken zurückgelegt. Wenn sie vor Denkmälern stehen, ist das Teil ihrer Mission. Sie bestreiten ihre Schlachten auf dem Weg zur Arbeit oder in der Mittagspause. Und selbst an regnerischen Sonntagen ziehen sie in den Krieg. Urban Legends und gefeierte Helden gibt es auch hier. So hat zum Beispiel eine Gruppe von Spielern in wenigen Tagen einen Großteil der Schweiz für sich beanspruchen können.15 Dennoch ist beim Spielen auch Vorsicht geboten. Ein Ingress-Spieler wurde von der Polizei angehalten, da besorgte Passanten die elektronische Stimme aus seinem Smartphone und die zu hörenden Befehle, wie “Target in 40 Meters“ falsch verstanden hatten und die Polizei alarmierten.16

Wer sind die Agenten?

Mein Gesprächspartner Lüder forderte Anfang diesen Jahres den Zugangscode an, angeteasert durch das Video von Niantec Project. Nach zwei Monaten bekam er ihn endlich. Die Anfrage zum Testen der Beta-Version vermittelt einen elitären Charakter. Das Spiel scheint auf den ersten Blick nicht für jedermann zugänglich. Auch wenn der Zugangscode keine wirkliche Hürde darstellt, kommt man ohne ein Android-Gerät nicht weiter. Das Spiel ist vor allen Dingen bei den Early Adopters17 und technikaffinen Menschen beliebt. Lüder beispielsweise arbeitet in der IT-Branche, wie viele andere Ingress Nutzer. Hier hat sich das Spiel am schnellsten rumgesprochen. Aus den Medienberichten erkennt man eine bunte Altersmischung bis 50 Jahren bei den Gamern. Der Großteil der Spieler ist allerdings männlich. Google bemüht sich deshalb, mehr Spielerinnen für Ingress zu begeistern So rief Anne Beuttenmüller, Product Marketing Manager bei Niantic Labs, mit folgenden Worten zu einem Treffen auf:

Egal ob Blau oder Grün, ob Level 8 oder noch iPhone Besitzer 😉 ihr seid herzlich zum ersten Hamburg Ingress Women MeetUp eingeladen. Lasst uns bei einem Gläschen Sekt austauschen und kennenlernen und vielleicht die ersten L8 Ladies Portale errichten 🙂 Treffpunkt am 6. Juni um 19 Uhr im Google Büro – ABC Str. 19. Bringt gerne interessierte Freundinnen mit. Activation Codes sind vorhanden. Ich freue mich auf Euch!”18

Hier wird versucht bewusst an die weibliche Zielgruppe auf Augenhöhe heranzutreten. Nach der Einteilung von Jürgen Fritz, der eine Einführung in die Spieltheorie veröffentlichte, in die verschiedenen Typen virtueller Spielegemeinschaften, muss für Ingress-Nutzer ein neuer Typus definiert werden. Die Ingress-Spielergemeinschaften besitzen einerseits die Eigenschaften von Clans: „Es handelt sich dabei um Gruppierungen, die sich gebildet haben, um als relativ geschlossene Gruppe die virtuellen Herausforderungen gemeinsam zu meistern. Viele Clans haben Gruppenaktivitäten sowohl Online als auch Offline.“19 Die Clans lassen sich in die beiden großen Fraktionen “Resistance” und “Enlightened” einteilen. Hieraus ergeben sich aber auch kleinere Gruppierungen und die Bedeutung von Einzelpersonen, die für ihre Fraktion Aufgaben meistern, kann ebenfalls groß sein. Das Treffen kleinerer Gruppierungen zeigt Parallelen zu einer LAN-Party: „LAN-Partys sind auf virtuelle Spielwelten hin bezogene, meist sporadisch stattfindende Veranstaltungen, zu der die Spieler mit ihren Rechnern anreisen, um für einen Tag oder ein Wochenende mit andern Spielern in großen Räumen oder Hallen verschiedene Spiele auszutragen.“20 Die “sporadisch” stattfindenden Veranstaltungen nehmen bei Ingress eine neue Form an: Die Mobilität durch die kleinen Konsolen (Smartphones), die so einfach zu transportieren sind, nimmt nochmals zu. Dennoch werden auch bei Ingress in alter Manier größere Veranstaltungen organisiert, die meist auf der Social Media Plattform Google+ beworben werden. Die Dauer solcher Veranstaltungen und der Ort, an dem diese stattfinden, haben sich jedoch verändert. Die Treffen beschränken sich meist auf mehrere Stunden. Der Ort wird nicht vorher festgesetzt, sondern es wird lediglich eine Route bestimmt, die sich während des Spielverlaufs aber jederzeit ändern kann. Mobilität und Flexibilität zeichnen die neue Spielergemeinschaft aus.

Lüder und ich ziehen weiter. Die Wege zwischen den Portalen sind überraschend kurz und gerade in der Innenstadt die Distanzen gut zu zu Fuß zu überwinden. Die Anzahl der Portale ist enorm. Hinter jedem noch so kleinen Denkmal oder einer Sehenwürdigkeit kann sich ein Portal verbergen. “Hier waren gerade Frösche”, stellt Lüder fest mit dem Blick auf sein Smartphone. Das Portal wurde kürzlich gehackt und mit grünen Resonatoren aufgefüllt.

Die Spielsituation kann sich innerhalb von Sekunden verändern. Caja Thimm, eine deutsche Medienwissenschaftlerin, erklärt das dynamische Spielgeschehen folgendermaßen: „Das Spiel erzeugt also einen Zustand, auf den der Spieler reagieren muss, was wiederum einen neuen Zustand erzeugt. Subsumiert man dabei Regeln und die aktiven Handlungen des Gegenspielers unter Spiel, so ergibt sich daraus, dass das Spiel schon in seiner einfachsten Form interaktiv ist.“21

Thimm bezieht sich dabei auf den Medienforscher Christoph Klimmt und der Theorie der “Input-Output-Loop”22, bei der in dem speziellen Fall von digitalen Spielen eine Aktion und Reaktion auf das Spielgeschehen in Echtzeit abläuft.

Ich selbst als teilnehmende Beobachterin merke, wie ich während des Geschehens nun hinter jedem Passanten mit einem Smartphone in der Hand einen Ingress-Spieler vermute – im schlimmsten Fall einen Spieler der gegnerischen Fraktion. Natürlich hat man keinerlei körperliche Angriffe zu befürchten. Trotzdem kann es passieren, dass der Gegner dir folgt und deine eroberten Portale wieder zurückholt. Oder sie durch Items aufstockt, um sie vor deinen Angriffen zu schützen.

Ist Ingress bloß ein Spiel?

Als ich Lüder nach einer absurden Konfrontation mit anderen Ingress-Spielern frage, grinst er. Er erzählt mir von einer Situation in einem Park. Er sei vor einem Denkmal gestanden, um ein Portal zu hacken. Für andere Ingress-Nutzer sei sein Vorhaben durchschaubar gewesen. Zwei Jungs seien auf Fahrrädern angerast gekommen und hätten wenige Meter neben ihm angehalten. Sie hätten angefangen, auf ihren Handys rumzutippen und dabei immer wieder zu ihm rüber geblickt. Nach zwei Minuten seien sie so schnell verschwunden wie sie sie gekommen seien. Der emsige Kampf um die Portale und einhergehende Wettstreit lässt reale Welt und Spielwelt verschmelzen. Das beobachtet man laut Jürgen Fritz auch bei Kindern: „Kinder entwickeln recht früh ein ´Grenzbewusstsein´ davon, ob sie sich in einer Spielwelt befinden oder nicht. Gleichwohl gibt es Situationen des `Oszillierens` zwischen realer Welt und Spielwelt, in denen unklar ist, ob sich die Beteiligten (noch) in einer Spielwelt befinden oder zur realen Welt übergewechselt haben.“23 Grenzüberschreitungen sind bei Ingress nicht verwunderlich, sondern von den Betreibern beabsichtigt: Niantic wirbt in Videos mit Aussagen wie “Ingress is not a game” oder “It´s more than a game”. “Jedes Spiel kann jederzeit den Spielenden ganz in Beschlag nehmen”, so der bekannte Kulturhistoriker Johan Huizinga.24 Er definiert in seinem Werk “Homo Ludens” den Menschen als Spieler und erklärt die Entwicklung der Kultur aus dem Spiel.

Die meisten Spieler von Ingress sind sich durchaus bewusst, dass sie mit ihrer Beteiligung an Ingress für Google von großem Nutzen sind: Sie offenbaren ihre gesamten Bewegungsdaten. Das schreckt sie jedoch nicht ab. “Die können ja eh nicht so viel damit anfangen” ist die vorrangige Meinung. “Auch wenn sie die Daten für Werbezwecke nutzen, sehe ich darin keine große Gefahr”. Das Spiel-Erlebnis steht im Vordergrund und auch ich persönlich kann aus meiner teilnehmenden Beobachtung sagen, dass schnell eine Sogwirkung einsetzt und ich Gefallen daran finde. Es besteht im gesamten Spielverlauf eine Dynamik, die sich binnen Sekunden ändern kann. Somit verliert es nicht an Spannung. Lediglich die Begrenzung bis zum 8. Level stellt eine Hürde dar, die in der Beta-Phase noch ausgebaut werden kann. Das ist auch die Hoffnung vieler Level-8-Spieler. Das interaktive Storytelling wurde schon im Teaser-Video eingebracht und wird während des Spiels begleitend durch Bonus-Videos ausgebaut. Diese Bonus-Videos berichten auch von realen Spielertreffen und Fortschritten im Ausbau einer Fraktion. Der Spieler wird aktiv in das Geschehen eingebunden. Die permanente Leistungsmessung äußert sich auf unterschiedlichem Wege. Zum einen kann man durch das Sammeln von Action Points25 seinen Level verbessern. Weiter bietet die Seite ingress.de/intel eine Übersicht über den weltweiten “Punktestand”, also die Verteilung der Resistance und Enlightened. Das unterstreicht den Wettbewerbscharakter, der zu den meisten Spielsituationen und -verläufen dazu gehört.

Nach zwei Stunden Fußmarsch verabschiede ich mich schließlich von Lüder. “Besorge dir mal die Version fürs iPhone und trete dem Widerstand bei. Dann können wir wieder zusammen losziehen”, sind seine Abschiedsworte an mich. Ausprobieren werde ich es definitiv. Aber ob ich meine Freitagabende künftig damit verbringen werde, durch die Stadt zu laufen und Portale zu hacken, ist doch eher fraglich.

1 Sehenswürdigkeiten, Bauwerke oder Kunstwerke in der realen Welt, die im Spiel als Portal dargestellt werden. An diesen Orten befindet sich besonders viel Exotic Matter und kann von den Fraktionen erobert werden.

2 http://www.youtube.com/watch?v=92rYjlxqypM

3 Virtuelle Gegenstände, die im Spielverlauf gesammelt oder erkämpft werden können.

4 http://www.spiegel.de/netzwelt/web/google-ingress-die-ganze-welt-als-spiel-a-902267.html

5 http://www.elektrischer-reporter.de/phase3/video/309/

6 http://www.youtube.com/watch?v=ohod0P7nRIA

7 http://www.ingressfans.de/2013/03/12/ingressimfernsehenardmorgenmagazin/

8 Schnitzeljagd, bei der mithilfe von GPS-Daten aus dem Internet ein Geocache (Behälter mit Tauschgegenständen) ausfindig gemacht wird

9 Generation, die mit digitalen Technologien aufgewachsen und vertraut sind.

10 Tönnis, Marcus: Augmented Reality. Einblicke in die Erweiterte Realität. Berlin, Heidelberg. 2010, S. 2.

11 Ebd.

12 Ebd.

13 Spielerische Elemente in einem nicht-spielerischen Kontext.

14 Professionelle Spieler

15 https://plus.google.com/109800248650045926499/posts/56JagnLQYRf

16 http://derstandard.at/1353208916976/ErsteVerhaftungenvonIngressSpielern

17 Menschen, die sich intensiv mit neuen Technologien beschäftigen

18 https://plus.google.com/events/chjdadcu11b5va3fab3prdv8ec0

19 Fritz, Jürgen: Das Spiel verstehen. Eine Einführung in Theorie und Bedeutung. Weinheim, München 2004, S. 240.

20 Ebd.

21 Thimm, Caja: Das Spiel. Muster und Metapher der Mediengesellschaft. Wiesbaden 2010, S. 40.

22 Ebd.

23 Fritz 2004, S. 148.

24 Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Hamburg 1987, S. 17.

25 Erfahrungspunkte, die man im Spielverlauf sammelt.